Das Ameisenrätsel
Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der großen Erfindungen und Entdeckungen. In diesem Jahrhundert wurde mehr entdeckt und erfunden als in der ganzen bisherigen jahrtausendealten Menschheitsgeschichte. Es gab aber auch durchaus absurde Beobachtungen und Entdeckungen, die einer späteren wissenschaftlichen Beurteilung nicht standhalten konnten, aber bei ihrer Veröffentlichung großes Aufsehen unter den Wissenschaftlern hervorgerufen hatte.
So muss es auch am 13. April 1861 in London gewesen sein, wo vor der ehrenwerten Linnè-Gesellschaft der große Charles Darwin zwei Briefe aus Amerika vorstellte, die ihn angeblich in höchste Erregung versetzten. Ein Arzt aus Texas, namens Dr. Gideon Lincecum, hat die Entstehung des Ackerbaues aufgedeckt. Seine jahrelangen Beobachtungen haben ergeben, dass der Ackerbau keine Erfindung des prähistorischen Menschen war, sondern die Ameisen die Ersten waren. Sie sollen die Ersten gewesen sein, die Aussaat und Ernte betrieben haben. Dies wurde im ersten Brief, wie folgt begründet:
„Um die Erdaufschüttung herum reinigt die Ameise den Grund von allen Hindernissen und planiert die Oberfläche bis etwa vier Fuß vor ihrem Stadttor. Es sieht aus wie gepflasterte Erde; und es sieht nicht nur so aus. Nicht ein einziges grünes Ding darf aus dieser Planierung wachsen mit Ausnahme einer einzigen Spezies: einer Art von samentragendem Gras. Nachdem das Insekt diese Spezies kreisrund um den Erdhügel gepflanzt hat, kultiviert es die Pflanze mit dauernder Sorgfalt, ausrottend alle anderen Gräser, die sich dazwischen geschlichen haben. Dieses Ameisengras sprießt üppig empor und liefert eine zahlreiche Ernte von kleinen, weißen, steinartigen Früchten. Das Insekt wacht über ihrem Reifen; dann pflückt es und bringt die Ernte heim; nach der Ernte wird nutzloses Grasstroh hinausgeworfen. Dieser Ameisenreis beginnt in den ersten Novembertagen zu sprießen. Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß diese spezielle Gräserart mit voller Absicht gepflanzt wurde.“
In einem zweiten Brief, dem ein Brief von Darwin, wo er seine Neugierde und Zweifel zum Ausdruck brachte, vorausging, versuchte der amerikanische Arzt jegliche Zweifel zu entkräften und mit handfesten Beweisen zu belegen. Bei den versammelten Wissenschaftlern kam es nunmehr zu heftigen Diskussionen, die ein Für und Wider dieser überraschenden Theorie zum Inhalt hatten und Darwin wurde von Mitgliedern der Linné Gesellschaft mitunter sogar dahingehend verspottet, einem Spaßvogel und einem Witz zum Opfer gefallen zu sein.
Die ursprüngliche Aufregung und die wissenschaftliche Auseinandersetzung waren allerdings nur von kurzer Dauer und die Theorie bzw. Geschichte geriet alsbald in Vergessenheit. Allerdings sollte 40 Jahre später die peinliche Geschichte von den Ameisen als Ackerbauern nochmals aktuell werden, weil ein gewisser Amerikaner namens M. Wheeler diese Geschichte zum Anlass nahm, um gegen Darwin zu polemisieren. Dabei war die Kritik von Wheeler weit überzogen, denn in der Zwischenzeit hat sich durch namhafte Wissenschaftler die „Myrmekologie“, als Lehre von den Ameisen etabliert. Die ersten wirklich brauchbaren Mikroskope bildeten die Grundlage für wissenschaftliche Beobachtungen. Dabei ging es nicht mehr um ackerbauliche Phänomene, sondern um die Beweggründe der Tiere und um die Kraft, die dahinterstand. Daraus entstand natürlich ein wissenschaftlicher Streit, aber dadurch entstand ein umfangreicher und faszinierender Einblick in die Lebenswelt der Ameisen. Einige biologische und soziale Beobachtungen sollen ein Beispiel davon geben, was alles beobachtet wurde: Ameisen produzieren einen Erkennungsgeruch. Sie entwickeln eine eigene Sprache, die aus Flügelschwingungen besteht. Sie entsagen sich der Sexualität, gleich nach der Hochzeit lassen sie die unnütz gewordenen männlichen Ameisen verhungern. Der Straßenbau, der Bau von Tunnels und Brücken, der Schlaf wurden von verschiedenen Wissenschaftlern in verschiedenen Ländern genauestens beobachtet. Die Aufzeichnungen ließen sich beliebig fortsetzen. Fakt ist, dass in der besagten Zeit den Ameisen beinahe mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde, als dem prähistorischen Menschen.
Je mehr man allerdings forschte, umso mehr wurde die ursprüngliche Theorie vom Ackerbau der Ameisen wissenschaftlich widerlegt, denn die Ameisen säen keine Samen und Körner, sondern sie machen geradezu das Gegenteil, sie sammeln diese lediglich zur Vorratshaltung. Der endgültige Beweis dafür gelang einem gewissen Ferdinand Goetsch 1937, der zu folgender wissenschaftlicher Erkenntnis kommt: Die Ameisenvölker haben zwei entgegensetzte Triebe, nämlich einen Sammel- und einen Bautrieb. Sie sammeln Körner, Holz und andere Materialien. Zum Bauen müssen vorerst wieder alle gesammelten Materialien herausgeschafft werden. Natürlich auch die Samen und Körner. Diese Beobachtung dürfte dann die Grundlage für die ursprüngliche Erkenntnis gewesen sein, dass die Ameisen Ackerbauern seien. Dabei wurde übersehen, dass die Samen und Körner nach Fertigstellung des Baues wieder als Vorrat hineingeschafft werden. Sollten in der Zwischenzeit einige Samen und Körner gekeimt bzw. aufgegangen sein, so war das Zufall und keineswegs beabsichtigt.