Brot zwischen göttlicher Verehrung und Aberglaube
Im Zuge dieser allgemeinen Ehrfurcht vor dem Brot und dessen Verehrung kam es während des Jahres zu einer Vielzahl von immer wiederkehrenden und mit christlichen Inhalten besetzten Feiertagen sowie zu besonderen gesellschaftlichen Ereignissen, bei denen durch besondere Brote und Brotformen (Gebildbrote) deren Unterschiedlichkeit zum Alltag in einem besonderen Ausmaß zum Ausdruck gebracht werden sollte. Dabei kam es bei den Gebildbroten zu einer Verschmelzung von vorchristlichem und christlichem Gedankengut. Ihre Herstellung war von der allgemeinen Überzeugung geprägt, dass zu bestimmten Zeitpunkten die dem Brot innewohnende Kraft ein besonders hohes Niveau erreichen kann. Die gewählten Zeitpunkte orientierten sich sehr stark an Naturbeobachtungen und an Festlichkeiten innerhalb des Familienverbandes. Diese Brote wurden sehr häufig innerhalb der Familien und der Nachbarschaft ausgetauscht, um sich gegenseitig diese besondere heilbringende Kraft zuteilwerden zu lassen. Häufig wurde auch den Stalltieren von dem „Heilbrot“ gegeben, weil sie zu den unentbehrlichen Helfern der Bauern zählten, und damit eine Erhöhung der Arbeitsleistung dieser Nutztiere erhofft wurde. Ebenfalls auf vorchristliche Glaubensvorstellungen zurückzuführen war der Umgang mit Brosamen, die in Form einer rituellen Handlungen der Natur wieder zurück gegeben wurden, um einen Akt der Versöhnung mit den Kräften der Natur zu symbolisieren, denen man vorher etwas weggenommen hatte.
In einer eindeutig christlichen Tradition stand der weit verbreitete Brauch, diese Festtagsgebäcke an Kinder und Arme zu verteilen, um den armen Seelen im Fegefeuer zu helfen. Kinder, Arme und geistig bzw. körperlich behinderte Menschen galten als die Verkörperung der „Armen Seelen“. Aber viele Menschen versuchten natürlich auch schon im Diesseits mit guten Taten für das eigene Seelenleben vorzusorgen. Sie sahen über viele Jahrhunderte hindurch das irdische Leben lediglich als Vorbereitung zur Erreichung des eigenen Seelenheiles. Der Unterschied zu den Alltagsformen der Gebäcke lag einerseits in einer besonders typenreichen Formgebung der Gebildbrote und andererseits in der Verwendung hochwertigerer Zutaten. Trotz der Vielzahl der verschiedenen Formen konnte man eindeutig feststellen, dass es sich um keine spielerisch gestalteten Phantasiefiguren handelte, sondern dass alle Gebilde von einem ganz bestimmten Sinngehalt erfüllt waren. Die Gebildbrote reichten von verschiedenen Tier- und Menschengestalten bis hin zu den unterschiedlichsten Formen, die ein besonderer Ausdruck von Fruchtbarkeit und anderen Sinnbildern (Darstellungen des Kreislaufes des Jahres oder der Sonne) sein sollten. Im Jahresablauf wurden die Brauchtumsgebäcke unterteilt in: Allerseelen- und Martinigebäcke, Gebäcke des Weihnachtsfestkreises und Gebäcke des Osterfestkreises. Daneben gab es noch die Gebäcke im Brauchtum des Lebenslaufes. Zu ihnen zählten die Gebäcke, die im Brauchtum von Geburt und Taufe, Hochzeit und Bestattung verankert waren.
Auch in der Volksliteratur lebte vorchristliches Gedankengut weiter, und auch hier standen mitunter das Brot und das Brotbacken im Mittelpunkt solcher Erzählungen. So berichten die Tiroler Sagen von einer Frau Hitt, die einem Bettler anstatt Brot einen Stein gereicht haben und wegen dieses Brotfrevels zu Stein erstarrt sein soll, und von Zwergen, die sich hauptsächlich mit der Kunst des Schmiedens und Brotbackens beschäftigt haben sollen. Auch Hexen und Brot stellten eine häufige Verbindung dar. Die Rolle des Brotes in solchen Erzählungen war aber sehr ambivalent. So wurde das Brot einerseits als wirkungsvolles Abwehrmittel gegen Hexen und teuflische Mächte gesehen, andererseits hatten die Hexen aber auch die Macht keimendes (Brotteig) und sprießendes Leben zu ersticken und damit zu verhexen. Aktenkundig ist ein Fall aus der Schweiz (Faido) aus dem Jahre 1457, wo ein Zeuge aussagte, dass während des Brotbackens eine Hexe vorbeikam und das ganze Brot zerstörte. Eine Besonderheit im Zusammenhang mit sagenhaften Erzählungen über das Brot aus dem Tiroler Raum stellte das „Lamplbrot“ dar.
Dieses Brot musste in der Heiligen Nacht während der Christmette gebacken werden. Die Tötung des Lammes und das Mahlen des Getreides mussten zum gleichen Zeitpunkt stattfinden. Dann wurde das Mehl mit dem Blut des Lammes vermischt. Dazu brauchte man aber ein schwarzes Widderlämmchen, das in der Thomasnacht auf die Welt gekommen war. Die Tötung musste mit einem Messer aus Hartholz erfolgen. Die Knochen mussten ebenfalls vermahlen und unter den Mehlbrei gemischt werden. Den Abschluss bildete das Backen des Brotes auf einem erhitzten Mühlstein. Durch den Genuss des Lamplbrotes wurde man dann angeblich kugel- und stichfest.
Viele dieser Erzählungen und Deutungen waren fester Bestandteil im gesellschaftlichen Leben. Besonders der frevelhafte oder unsachgemäße Umgang mit Brot war mit verschiedenen Strafankündigungen verknüpft, die vielfach als Gottesstrafen gedeutet wurden. Daneben wurden aber auch rituelle Handlungen bei einem bestimmten Ereignis im Umgang mit Brot gefordert, die keinerlei religiöse Inhalte hatten. Das Brot war natürlich auch wichtiger Bestandteil bei allen Festlichkeiten innerhalb der Familie und hatte dabei einen besonders bedeutsamen Stellenwert. Unter anderem musste bei Geburt und Taufe immer wieder Brot entsprechend berücksichtigt werden, ansonsten würde es nachteilige bis fatale Folgen für das Neugeborene haben. So musste zum Beispiel die Hebamme, die am Taufgang teilnahm, unbedingt Brot bei sich haben, um es der ersten Person, der sie begegnete zu reichen, denn anderenfalls würde das Kind neidisch werden. Die Angst vor den eventuellen negativen Auswirkungen bei Nichtbeachtung und die Unmöglichkeit eines klaren und eindeutigen Gegenbeweises waren aller Wahrscheinlichkeit ein Grund dafür, dass dieser Art des Aberglaubens in der Vergangenheit große Bedeutung zukam und sie sich über Jahrhunderte halten konnte.