Tiroler Brotgeschichte
Am Beginn stand aber auf alle Fälle die Kultivierung der wild wachsenden Ährengräser. Deren Anfänge lassen sich wegen der spärlichen Funde auch im Großraum Tirol nur ungefähr erahnen. Es wird jedoch angenommen, dass es während der Bronzezeit der Etsch entlang bereits eine Feldgraswirtschaft und einen bescheidenen Getreideanbau gegeben haben könnte]. Ackergeräte, die als Handpflüge gedeutet werden können, und die eindeutiger auf einen Getreideanbau hinweisen, stammen aber erst aus der Eisenzeit. Wichtig für den Getreideanbau und der damit verbundenen Herstellung von Brot, wurde im Laufe der Geschichte auch für unsere Region der Einfluss der Römer. Der erfolgreiche Anbau von Getreide war immer schon von mehreren Kriterien abhängig, die für die Menschheit eine große Herausforderung darstellten. Zu den wichtigsten Kriterien zählten: Getreideart, Bodenverhältnisse, Saatgut und die jeweiligen klimatischen Bedingungen. Besonders die Ungewissheit bei Wetterverhältnissen, Getreidekrankheiten und –schädlingen stellten für die Menschheit über Jahrtausende eine existentielle Bedrohung dar. Der Kampf gegen diese Unbilden und Tücken der Natur war auch für die Tiroler Bevölkerung eine besondere Herausforderung. In vielen Tiroler Bauernregeln fanden daher Naturbeobachtungen und über viele Generationen übernommene Erfahrungswerte ihren Niederschlag.
Die Genügsamkeit hinsichtlich Klima und Bodenverhältnisse war ausschlaggebend, dass sich von den beiden Brotgetreidearten (Weizen und Roggen werden in der Fachliteratur als Brotgetreide bezeichnet, weil nur diese beiden Getreidearten aufgrund ihrer Inhaltsstoffe gute Backeigenschaften besitzen. In den letzten Jahrzehnten ist auch wieder der Dinkel als gut backfähige Getreideart hinzugekommenin) in den alpinen Regionen der Roggen als bestimmende Getreideart durchsetzen konnte. Deswegen bezeichnet man ihn auch hier und im Norden Europas als Korn, was ihn als bedeutendste Getreideart auszeichnen sollte. Besonders wichtig war für die alpinen Regionen, dass er auch in extremen Höhenlagen angebaut werden konnte. In Südtirol versuchte man nachweislich Roggen auf über 1900m Seehöhe anzubauen. Da der Weizen hinsichtlich Klima und Bodenbeschaffenheit anspruchsvoller als Roggen ist, wurde er in Tirol nur in Talniederungen und in besonders begünstigten Lagen südlich des Alpenhauptkammes in einem größeren Umfang angebaut. Der Weizen blieb über viele Jahrhunderte der fürstlichen und bürgerlichen Bevölkerung in Tirol vorbehalten. Für die ländliche Bevölkerung wurde Weizen nur für das Festtagsgebäck und für die traditionellen Gebildbrote verwendet. Neben den erwähnten Brotgetreidearten waren noch Hafer, Gerste und Mais in der bäuerlichen Küche von Bedeutung. Unbedingt erwähnt werden muss auch noch der Buchweizen, der aber nicht zu den Getreidearten gezählt, sondern den Knöterichgewächsen zugeordnet wird. Der Hafer war die wichtigste aller sogenannten „minderen“ Getreidefrüchte. Neben seiner Verwendung als Nahrungsmittel (Hafermus) war der Hafer in der Vergangenheit auch als Pferdefutter vor großer Bedeutung, denn die Pferde waren das wichtigste Nutztier im Bereich des Transportwesens und der Kriegsführung.
Die Nahrungsmittel, die den Menschen qualitativ und quantitativ zu Verfügung standen, wurden weitgehend von ihren sozialen und ökonomischen Verhältnissen bestimmt. Daneben waren im gesamten Alpenraum auch die jeweils vorherrschenden klimatischen und jahreszeitlichen Bedingungen sowie das Niveau der Vorratshaltung und der Methoden der Konservierung von großer Bedeutung. Ungeachtet dessen war der Speisezettel für alle Bevölkerungsschichten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von unbeeinflussbaren und unvorhersehbaren Ereignissen, wie Missernten, Tierseuchen, Naturkatastrophen, Kriegen und Kriegsverwüstungen bestimmt worden. Das dominierende Nahrungsmittel für einen Großteil der Tiroler Bevölkerung war über viele Jahrhunderte hindurch nicht das Brot sondern brei- und musartige Gerichte. Neben Mus, Brei und Brot aus verschiedenen Getreidearten gab es noch Gemüse- und regionale Obstsorten sowie Milch- und Molkereiprodukte. Die Kartoffel als Nahrungsmittel nahm in Tirol erst ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts stark an Bedeutung zu. Fleisch stand bei der Durchschnittsbevölkerung nur an Sonn- und Feiertagen auf dem Speiseplan. Als Getränke standen hauptsächlich Wasser und Milch zur Verfügung. Zu manchen feierlichen Anlässen kamen auch Bier und Wein auf den Tisch. Die Feld- und Waldarbeit lag im Verantwortungsbereich des Bauern. Für den Garten, die Zubereitung und Konservierung der Lebensmittel waren die Frauen verantwortlich. In der bäuerlichen Baukultur waren die „Rauchkuchl“ mit offener Feuerstelle, einem darüber hängenden großen Kochkessel sowie der Backofen, der sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Wohn- bzw. Wirtschaftsgebäudes befinden konnte, fixe Bestandteile. Verköstigt werden musste im bäuerlichen Bereich neben der Familie auch noch das Gesinde und während der Anbau- und Erntezeit die Taglöhner. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb die Ernährung für die normale Bevölkerung in Tirol nicht nur spärlich und karg, sondern war auch von einer für gegenwärtige Vorstellungen erschreckenden Eintönigkeit gekennzeichnet, in der nur einige religiöse und familiäre Festlichkeiten auch kulinarische Höhepunkte darstellten.
Für die Brotherstellung muss nach dem Anbau die Vermahlung als wichtige weitere Entwicklungsstufe angesehen werden. In Südtirol konnte die Verwendung von Handmühlen während der Eisenzeit eindeutig nachgewiesen werden. Der entscheidende Fortschritt gelang aber den Römern mit der Erfindung der Wassermühlen. Da in den alpinen Regionen genügend fließende Gewässer zur Verfügung standen, kam es zum Bau von vielen mit Wasser betriebenen Mühlen. Der Bau einer Mühle stellte aber von jeher höchste technische Anforderungen an die Erbauer. Dies hatte wiederum zur Folge, dass in vielen Fällen spezielle Fachleute mit dieser Aufgabe betraut werden mussten. Der Bau einer Mühle war gerade deswegen oft eine sehr kostspielige Angelegenheit und übertraf die finanziellen Möglichkeiten eines einzelnen landwirtschaftlichen Anwesens.
Daher gab es auch in Tirol eine Vielzahl von Gemeinschaftsmühlen, einer der ganz wenigen Bereiche, wo der Tiroler Bauer bereit war, Eigentum und Nutzungsrechte zu teilen. Trotzdem blieb ein Teil der Bauern in Tirol auf den Müller angewiesen und gegen diesen richtete sich dann auch das ganze Misstrauen. Besonders wichtig waren im Rahmen der Vermahlung die mittelalterlichen Rechts- und Besitzverhältnisse. Um diese einträgliche Einnahmequelle zu sichern, wurde die Getreidevermahlung von den Feudalherren mit einem „Bann“ belegt, und das bedeutete, dass jeder Bauer, der sich auf dem fürstlichen Gebiet befand, das Getreide bei einer ganz bestimmten Mühle vermahlen lassen musste. Später konnten auch Städte und Dörfer Mühlenrechte erwerben. Durch das städtische Zunftwesen wurde die Getreidevermahlung von der Brotherstellung getrennt. Außerdem befanden sich die Mühlen meist außerhalb der Stadtmauern. Die Müller hatten in der Folge gegen eine Vielzahl von Vorurteilen zu kämpfen. Diese Vorurteile wurden während des Mittelalters begleitet von einem besonders ausgeprägten Hass der Bevölkerung gegenüber dem Müller. Der Hauptgrund für diese massive Ablehnung war sicherlich die Tatsache, dass der Müller einfach ein wichtiges Glied in einer wirtschaftlichen Kette war, wo der Bauer das Getreide im guten Glauben abgab bzw. verkaufte, und der Bäcker das Mehl im guten Glauben kaufen musste. Um gegen die möglichen betrügerischen Absichten der Müller vorzubeugen, wurde eine Vielzahl von Verordnungen erlassen. Dass diese Vorbehalte auch in Tirol bekannt waren, belegt zum Beispiel die Latscher „Müll- und päcken-ordnung“ aus dem Jahre 1607, in der den Müllern genauestens vorgeschrieben wurde, wie sie zu mahlen, und wie viel sie abzuliefern hatten. Trotzdem darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Beruf des Müllers besondere Fähigkeiten voraussetzte. Neben der komplizierten Bedienung und Instandhaltung der Mühlen, war der Müller auch gefordert aus den unterschiedlichen Getreidequalitäten ein möglichst backfähiges Mehl zu mahlen. Dies setzte ein besonderes Maß an Erfahrung und Fingerspitzengefühl voraus.
Nachdem in Tirol bis weit ins 20. Jahrhundert hinein der größte Teil der Bevölkerung im ländlichen Bereich seinen Wohnsitz und Arbeitsplatz hatte, musste auch die Brotherstellung und Brotversorgung entsprechend geregelt und organisiert werden. Dabei gab es keine einheitliche Organisationsform, denn zu unterschiedlich waren die geografischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. In den wenigen Städten dominierten dagegen bis weit in die Neuzeit hinein die strengen Zunftordnungen. Abgelöst wurden diese dann nach einer kurzen Phase der Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von den Gewerbeordnungen, die dann aber für das ganze Land Gültigkeit hatten. So gab es neben den städtischen Bäckereien, Dorfbäcker, Hofbäcker, Militärbäckereien und Klosterbackstuben. Im bäuerlichen Bereich wurde auf beinahe allen Höfen Brot für den Eigenbedarf gebacken. Der eigene Backofen war ein typisches Merkmal in der bäuerlichen Architektur. Dabei wurden in Tirol die Backöfen entweder innerhalb des Bauernhofes oder Wirtschaftsgebäudes, oder freistehend als Backhaus errichtet.
Ein besonderes Erscheinungsbild boten die erkerartigen Backofenbauten, die sowohl in Haufendörfern als auch auf den verstreuten Höfen großen Anklang gefunden haben. Gerade im Alpenraum hatte die Brotherstellung eine viele Jahrhunderte lange Tradition, die bis über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts reichte. Die Backtage und Bestimmungen darüber waren aber vielen Dorfgemeinschaften so wichtig, dass sie in Weistümern (gemeinnützige Bestimmungen und Vorschriften einer Gemeinde) schriftlich festgehalten wurden. Ansonsten wurde der Backtag mit größter Sorgfalt ausgewählt. Dabei wurden besondere Lostage oder Mondkonstellationen bei den Entscheidungen berücksichtigt.
Nachdem in Tirol die wichtigste Getreideart der Roggen war, musste bei der Brotherstellung mit einem Sauerteig gearbeitet werden, der sowohl für die Teiglockerung als auch für die Backfähigkeit des Roggenbrotes verantwortlich war. Die Teigzutaten waren regional sehr unterschiedlich. Als Teigflüssigkeit wurde in der Regel Wasser verwendet. Zur Verbesserung des Geschmackes wurden Salz und Gewürze dazugegeben. Dabei behaupten einige Forscher, dass die Bergbauern in Tirol ihr Brot nur deswegen gewürzt hätten, weil sie damit den schlechten Geschmack des Brotes verdecken wollten.[2] Nach der anstrengenden Teigknetung, die im bäuerlichen Bereich Männersache war, wurde der Teig nach einer weiteren Ruhephase portioniert und geformt. In der Zwischenzeit musste der Backofen vorgeheizt werden. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Tirol ausschließlich in kuppelartigen Holzbacköfen Brot gebacken. Erst am Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die gewerblichen Bäckereien sich nach und nach auf die neuen indirekt beheizten Backofensysteme umzurüsten. Während die Bäcker in der Stadt täglich, die Dorfbäcker mehrmals in der Woche ihr Brot buken, um es dann zum Verkauf anzubieten, waren im bäuerlichen Bereich die Backtage viel seltener. In Bergbauernregionen wurde lediglich acht bis zwölf Mal im Jahr Brot gebacken. Dafür aber in möglichst großen Mengen. Die Lagerung des Brotes erfolgte auf speziellen Brotgestellen (Brothurten) in einem luftigen Dachbodenbereich, um es vor Schimmel, Ratten und Mäusen zu schützen. Die Brote, die nach und nach verwendet wurden, waren natürlich hart und wurden mit einem eigenen Gerät, der sogenannten Brotgrammel (Holzgefäß, bestehend aus einem Boden und drei Seitenwänden. In der Mitte wurde eine Art grobes Messer so verankert, dass man es auf und ab sowie seitlich bewegen konnte) bearbeitet. Das harte Brot wurde auf den Boden dieser Brotgrammel gelegt und mit dem beweglichen Messer grob zerhackt. Diese harten Brotstücke legte man dann in heißer Milch oder Suppe ein, um sie im aufgeweichten Zustand zu essen.